Schön und sehr schwierig zugleich. Die Geschichte der Zwycięstwa-Straße ist ein Geflecht aus menschlichen Dramen, Höhen und Tiefen, historischen Wirren, sozialer Ungerechtigkeit, beeindruckenden architektonischen Werken, wissenschaftliche und technische Trophäen und sogar der Verbindung von Kunst und... ausgezeichneten Kaffee. Schließlich sind die Bilder der Gleiwitzer Wilhelmstraße und der Familienhäuser in schlesischen Städten eine lebendige Spur der sozialen Gegensätze.
Ich gucke ein Foto ursprünglich aus dem Reiseführer "Neuer illustrierter Führer durch die Stadt Gleiwitz mit Beiträgen aus der geschichtlichen Vergangenheit" an, das die heutige Zwycięstwa-Straße in Gleiwitz in Umgebung der Brücke über den Klodnitzer Fluss zeigt. Alte Fotografien und Postkarten haben ihren eigenen, unbestreitbaren Charme, und in deren Rahmen fangen sie das Bild einer Welt ein, die nicht mehr existiert. Die Seiten der Romane von Horst Bienek, auf denen der Autor eines der einzigartigen Gebäude in der heutigen Zwycięstwa-Straße verewigt hat, bleiben ebenso erhalten wie die Seiten der Geschichte und die bunten Geschichten über die Pracht der Wilhelmstraße. Manche meinen, die Straße habe etwas von einer Mailänder Galerie, andere sehen eine Ähnlichkeit mit der Pariser Straße in Prag. Wie sieht die Zwycięstwa-Straße aus? Sicherlich voller Kontraste, historischer Bezüge, einer Menge von eklektischer, jugendstilähnlicher und modernistischer Architektur und Dekoration.
Ihr "Vorgänger" war die Dworcowa-Straße. Ende des 19. Jahrhunderts wurde in Gleiwitz eine repräsentative Straße mit dem Namen Wilhelmstraße angelegt und gestaltet. Der erste Hafen der Stadt befand sich direkt im Zentrum, in der Nähe der Dworcowa- und Zwycięstwa-Straße, am alten Klodnitzer-Kanal. Es gab sogar eine Schmalspurbahnlinie, die zum Hafen führte. Nach dem Bau des Gleiwitzer Kanals wurde der Hafen stillgelegt. Was befindet sich heute an der Stelle des alten Kanals? Eine zweispurige Autobahn.
Die ideale Lage der Wilhelmstraße zog Unternehmer, Hoteliers und Kaufleute an. Schöne Stadthäuser und raffinierte öffentliche Gebäude wurden gebaut. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entsteht in der Zwycięstwa-Straße 37 ein schockierendes und durch die Einwohner umstrittenes Gebäude. Es ist das Seidenhaus Weichmann, eine Ikone des Modernismus. Heute vielleicht etwas "verloren" in der Hektik der Straße, stand das Werk des Architekten Erich Mendelsohn früher viel mehr im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit. Das Gebäude war in den 1920er Jahren unter anderem in Weimar, Paris und Moskau, wo es als Beispiel der Modernität und Fortschrittlichkeit von Gleiwitz galt. Wenn man sich dem Marktplatz in Gleiwitz nähert, sollte man sich auch das Gebäude in der Zwycięstwa-Straße 23 ansehen, das Kaufhaus Ikar, gefolgt vom Kaufhaus der Gebrüder Barasch und schließlich dem Kaufhaus Fedor Karpe.
In den 1920er Jahren wurde Gleiwitz um ein weiteres architektonisches Juwel von großer Bedeutung bereichert: das Hotel Haus Oberschlesien mit hundert Zimmern, Restaurants, Cafés, einem Ballsaal, einer Konditorei, einer Bierhalle und Büros. 1945, nach dem Einmarsch der Roten Armee in Gleiwitz, wurde es niedergebrannt. Danach wurde es wieder aufgebaut, und in der Zeit der Dritten Polnischen Republik wurde es zum Sitz der Stadtverwaltung.
Lohnt es sich, eine sentimentale Reise in die Wilhelmstraße zu unternehmen? Eindeutig ja. Wir können die verschiedenen architektonischen Stile und Tendenzen der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert bewundern, und wenn wir die Geschichte dieser Orte gut kennen, kommen wir ihnen näher, als ob die alle historischen Ereignisse die Orte miterlebt haben uns davon nicht trennen wurden. Wir müssen auch bedenken, dass die Zwischenkriegszeit für das zwischen Polen und Deutschland geteilte Schlesien eine Zeit war, in der in Europa sehr moderne Designtrends aufkamen. Lernen wir sie kennen. Es lohnt sich, einen einzigartigen Spaziergang zu unternehmen und die Wilhelmstraße kennen zu lernen.
Aber es gab auch dramatische Momente.
Die Wilhelmstraße in Gleiwitz spiegelt die Dramatik der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in Oberschlesien wider wie vielleicht keine andere Straße in Oberschlesien. In dieser Straße voller Pracht und Reichtum lebten vor allem eingewanderte Protestanten, die auf die oberschlesischen Autochthonen mit Missachtung herabblickten.
Die autochthonen Arbeiter wohnten in den Familienhäusern in der Nähe und mussten oft hungern. Sie hatten kein Geld zum Heizen und hatten keinen Zugang zu medizinischer Grundversorgung. Die Kindersterblichkeitsrate in Oberschlesien war damals die höchste im Reich.
Mit welchem Schrecken und welcher Angst mussten die Autochthonen durch die damalige Zwycięstwa-Straße gegangen sein. In den meisten Fällen trauten sie sich überhaupt nicht in die mit Luxusartikeln vollgestopften Geschäfte der Wilhelmstraße.
Die sozialen Gegensätze und das Elend der oberschlesischen Autochthonen erreichten ihren Höhepunkt bald nach dem Ende des Ersten Weltkriegs. Damals durchbrach eine verzweifelte, hungrige Schar oberschlesischer Frauen alle Schranken der Angst. In der Zwycięstwa-Straße wurden die Geschäfte geplündert.
Gegenüber diesen armen Menschen stand ein junge oberschlesische Adelige Hubertus von Aulock. Er befehligte ein Freiwilligenkorps, das aus Veteranen des Ersten Weltkriegs bestand. Unter seinen Offizieren und Soldaten befanden sich wahrscheinlich viele Oberschlesier.
Damals spielten sich in der Zwycięstwa-Straße dramatische Szenen ab, die denen aus dem Film Panzerkreuzer Potemkin von Sergej Eisenstein enehlten. Dort spielt sich auch die erschütternde Szene auf der Treppe in Odessa ab, wo die zaristische Armee die Einwohner der Stadt brutal erschoss. Diejenigen, die das nicht gesehen haben, sollten es sich anschauen. Ganz ähnlich musste es in der Wilhelmstraße ausgesehen haben.
Doch hier schoss der Bruder auf den Bruder. Das Blut verhungernter Menschen floss auf dem Pflaster der Zwycięstwa-Straße.
Später versuchte man, diesen verbrecherischen Stolz des schlesischen Aristokraten, der Maschinengewehre gegen seine wehrlosen Nachbarn richtete, als eine Art Kampf für nationale Interessen darzustellen. Dies wäre den Opfern dieser Vorfälle wahrscheinlich nicht in den Sinn gekommen.
In ähnlicher Weise wurde in den folgenden Jahrzehnten der wahre Charakter der Konflikte der frühen 1920er Jahre des vorigen Jahrhunderts manipuliert. Es handelte sich um einen Aufstand der Ureinwohner gegen soziale Ungerechtigkeiten und nicht um nationale Unterdrückung, wie es später oft dargestellt wurde.
Heute sind viele der Gebäude in der Zwycięstwa-Straße dem Verfallenn, ihre pompösen Fassaden wurden in der kommunistischen Zeit zerstört. Die Familienzimmer wurden modernisiert und Bäder eingebaut. Und doch ist es nicht schwer zu erraten, dass der eigentliche Hintergrund der oberschlesischen Krise nach dem Ersten Weltkrieg ein sozialer Konflikt war.
In diesem Sinne ist die Wilhelmstraße nicht etwas, auf das man stolz sein kann, sondern eher ein Vorwand, um über die Geschichte der Region zu reflektieren.
Peter Karger