24.12.2021
No items found.

Ich bin mit meinen Brüdern nicht zerstritten

Der VdG Präsident Bernard Gaida im Gespräch mit Spectrum.direct

Bernard Gaida ist der Präsident des Verbandes der deutschen Sozial Kulturellen Gesellschaften in Polen. Im Gespräch mit Spectrum.direct zeigt er sich verwundert, dass die schlesische Organisationen das Martyrium der Deutschen von 1945 als eigenen Gründungsmythos darstellen. Er bedauert die unzureichenden Sprachkenntnissen der Autochthonen in der Region. Desto trotz betrachtet er die schlesische verbände mit Offenheit und Freundschaft.

Bernard Gaida
Mef.ellingen, Wikipedia.org

Bernard Gaida ist der Präsident des Verbandes der deutschen Sozial Kulturellen Gesellschaften in Polen. Im Gespräch mit Spectrum.direct zeigt er sich verwundert, dass die schlesische Organisationen das Martyrium der Deutschen von 1945 als eigenen Gründungsmythos darstellen. Er bedauert die unzureichenden Sprachkenntnissen der Autochthonen in der Region. Desto trotz betrachtet er die schlesische verbände mit Offenheit und Freundschaft.


Spectrum.direct: Herr Präsident, wenn man mit den Schlesiern in der Woiwodschaft Kattowitz spricht, da gewinnt man oft den Eindruck, dass sie viel mehr engagierte Deutsche sind als Vertreter der deutschen Minderheit. Warum sind diese Deutschen zur „Konkurrenz“ geworden?


Bernard Gaida: Ich weiß nicht, ob Sie mich um meine Meinung oder um die Bestätigung Ihrer Bemerkungen bitten wollen. Jeder von uns spricht wahrscheinlich mit anderen Schlesiern in der Woiwodschaft Schlesien und jede Verallgemeinerung ist falsch. Ich bemerke in Schlesien keine Konkurrenz, sondern große Identitätsveränderungen, die bei den Menschen stattfinden, deren Auswirkungen aber in den Bedingungen liegen, unter denen wir selbst, aber auch unsere Eltern oder oft auch Großeltern gelebt haben. In den Bedingungen, unter denen unsere persönliche Identität gebildet wurde. Das Wort Schlesier bedeutet heute etwas anderes als in meiner Umgebung und in den Zeiten meiner Kindheit, oder in den Überlieferungen meiner Großeltern. Das Schlesiertum ist in dieser Überlieferung und nach meinem Gefühl identisch mit dem Deutschtum, ich weiß doch aber, dass die schlesische Identität war und ist das Ziel der absoluten Polonisierung, die sie radikal verändert hat. Darüber hinaus hat die Geschichte nach 1922 diese beiden Teile unserer Heimat gespalten, was bedeutete, dass die beiden Gruppen von Schlesiern in ihrer Identitätsform über zwanzig Jahre trennen, in denen sie in verschiedenen, einander eher feindlich gesinnten Staaten existierten. Angesichts all dessen scheint die Frage der Situation nicht gerecht zu werden. Vielmehr sollte anerkannt werden, dass der Schlesier selbst für seine Identitätsentscheidungen wie für die kulturelle Zugehörigkeit, die er pflegen möchte, verantwortlich ist.


Sie haben sich vor Kurzem mit dem Europaabgeordneten Łukasz Kohut getroffen. Man merkt eine vorsichtige Annäherung zwischen den schlesischen Organisationen um Kattowitz und der deutschen Minderheit. Kann man diese Verbände für die deutsche Minderheit quasi zurückgewinnen, oder vielleicht sogar in den VdG einbeziehen?


Wir trafen uns mehrmals mit Łukasz Kohut; einmal hatten wir ein mehrstündiges Treffen. Ein sehr Interessantes, und wenn man es zusammengefasst hätte, würde es meiner Antwort auf die vorherige Frage nach verschiedenen Arten der schlesischen Identität entsprechen. Denn solche gibt es auch in seiner Familie und im zeitgenössischen Denken über Schlesien. Ich habe immer versucht, mit den sogenannten "schlesischen" Kreisen zu sprechen (so genannten, denn unsere DFKs sind sehr schlesische Kreise). Wir treffen uns, wir haben gemeinsame Gedenkfeiern und in letzter Zeit habe ich bereits zweimal an gemeinsamen öffentlichen Debatten mit der Bewegung für die Autonomie Schlesiens und der Schlesischen Regionalpartei teilgenommen. Ich zähle keine privaten Treffen. Unsere Kollegen vom DFK Schlesien arbeiten mit ihnen noch öfter und auf verschiedenen Ebenen zusammen. Da ich unsere Beziehungen nicht als Konflikt betrachte, denke ich nicht über den Begriff „zurückgewinnen“ nach. In den meisten schlesischen Kreisen (ich benutze den Begriff „Organisationen“ nicht, denn in der Regel sind die Organisationen selbst kleine Gruppen von Menschen mit einer unbestimmten Anzahl von Sympathisanten) sehe ich große Sympathie für das Deutschsein, gleichzeitig aber die Angst, dass sie, falls sie sich damit identifizieren, ihre eigene schlesische Identität verlieren und ... eine große Anzahl von Anhängern. Dies wurde kürzlich besonders deutlich, als ich mich vor einem Jahr an mehrere von ihnen mit einem Vorschlag wandte, an der Volkszählungskampagne vor dem Beginn der Volkszählung 2021 mitzuwirken. Ich schlug vor, dass die Kampagne gemeinsam auf die Möglichkeit hinweisen sollte, zwei nationale Identitäten anzugeben: eine deutsche und eine schlesische. Die meisten von ihnen lehnten den Vorschlag ab und riefen auf, aus Angst vor Missverständnissen seitens ihrer Anhänger, nur die Schlesische anzugeben. Daher ist es schwierig, über die Aufnahme in die Strukturen der deutschen Minderheit einer Organisation zu sprechen, die programmatisch die deutsche Identifikation ablehnt; als Schlesier aber sollten wir weiterhin zusammenarbeiten.


Wie könnte so eine Annäherung zwischen den beiden Spalten der Autochthonen aussehen? Wie könnten die schlesischen Organisationen davon profitieren und was hätte die deutsche Minderheit davon?


Ich mag den Begriff "Autochthonen" nicht; denn es ist ein belasteter Begriff und wir wissen heute, welche Rolle dieser Begriff in der Polonisierungspolitik gespielt hat. Es wurde im Gegensatz zum Begriff der "anerkannten Deutschen" verwendet, die es im Prinzip in Oberschlesien, in Ermland und Masuren nicht sein durfte.

Auf diese Weise wurden wir die oberschlesischen Deutschen bereits begrifflich entwurzelt. Ein Oberschlesier, der im Bergwerk in Waldenburg arbeitete, war ein anerkannter Deutscher, der in Gleiwitz aber nicht mehr. Es ist klar, dass die Annäherung stattfinden sollte. Sie sollte auf der historischen Wahrheit beruhen, auf der Wahrheit der Einstellungen und ihrer gegenseitigen Akzeptanz. Die Wahrheit der Geschichte ist auch eine Verteidigung der Fakten gegen ihre Mythologisierung, mit der wir es vor allem im Aspekt der Nachkriegsgeschichte zu tun haben. Schließlich wissen wir, dass im Jahr 1945, als sich die Front nach Westen bewegte, waren weitere Gebiete, in denen die Deutschen lebten, dem ausgesetzt, was Helga Hirsch als "Die Rache der Opfer" bezeichnete. Lager, Deportationen und Vertreibungen wurden für Deutsche in Rumänien, Ungarn, Jugoslawien, in der Tschechoslowakei und vor allem massenhaft in Schlesien, Pommern und Ostpreußen zur Realität. Gut, dass wir hier der s.g. oberschlesischen Tragödie gedenken; es ist aber nicht gut, dass es Organisationen gibt, die versuchen, dieses Phänomen von der üblichen in diesem Teil Europas Behandlung der deutschen Bevölkerung durch die Sieger zu trennen. Das Internet zeigt, dass dadurch junge und nicht sehr mit der Geschichte vertraute Menschen bereits in einer Überzeugung leben, die Lager seien nicht für Deutsche und für diejenige geschaffen, die als Deutsche anerkannt wurden, sondern die Gefangenen seien nur Oberschlesier gewesen. Einige Organisationen betrachten die Nachkriegslager als Gründungsmythos der „schlesischen Nationalität“. Daher betont der VdG die Allgemeinheit dieser Repressionen und wird neben Lamsdorf und Zgoda stets die Erinnerung auch an die Opfer des längst bestehenden Nachkriegslagers für Deutsche in Potulitz bei Bromberg pflegen. Gegenseitige Zusammenarbeit, die aber angesichts der Wahrheit demütig ist, stärkt immer unseren Widerstand gegenüber der Auferlegung eines oft verfälschten staatlichen historischen Gedächtnisses, mit dem wir es in Schlesien zu tun haben.


Es gibt viele tausende Autochthonen, Pendler, die in Deutschland arbeiten, aber hier ihre Familien haben. Wollen Sie auch diese Leute ansprechen oder gewinnen? Wie könnte sich die deutsche Minderheit für diese Menschen einbringen?


Tatsächlich führen viele Angehörige der deutschen Minderheit seit Jahrzehnten ein quasi Nomadenleben, was insbesondere das Bild Oberschlesiens stark verändert hat. Wir erinnern uns damals an den oft kritisierten Brief von Erzbischof A. Nossol, der auf die vielen negativen schädlichen Auswirkungen dieses Phänomens hinwies. Bereits in Ermland und Masuren wurden die in Deutschland Beschäftigten, aufgrund der Entfernung zur Grenze, tatsächlich zur endgültigen Entscheidung über die Auswanderung gezwungen. Diese Gruppe ist am schwersten zu erfassen, da sie im gesellschaftlichen Leben weder in Polen noch in Deutschland tatsächlich präsent ist. Am meisten fühlt sich diese Gruppe der deutschen Minderheit zugehörig, in der Regel nimmt sie aber sogar an den Wahlen nicht teil. Darauf deutet die niedrige Wahlbeteiligung in den sogenannten Minderheitsgemeinden hin. Wir verfügen über keine andere Lösung für sie, außer dem immerzu zugänglichen Angebot der DFKs.


Viele von diesen schlesischen Pendlern siedeln dann bewusst als deutsche Staatsangehörige nach Deutschland um. Die Vertriebenenverbände hätten bestimmt diese Menschen gerne ich ihren Reihen. Die meisten von ihnen finden jedoch den Weg in die Organisationen der Auslandspolen. Was machen die Vertriebenen falsch?


Dies sind vor allem Fehler der Integrationspolitik in Deutschland. Solange es trotz unvorteilhafter Veränderungen immer noch Schritte in Richtung des Sprachunterrichts, der Ansiedlungshilfen und der Ausbildung für Spätaussiedler unternommen werden, erhalten wir mit bereits deutscher Staatsbürgerschaft keinen Zugang zu diesen Maßnahmen. Diese Gruppe ist auch statistisch gesehen schwer erfassbar. Demzufolge fehlt hier ein Integrationsangebot. Andererseits haben sich viele Schlesier nach dem Beitritt Polens zur Europäischen Union nicht um die Aktualisierung ihrer deutschen Dokumente gekümmert und ihre Arbeit nehmen sie auf der Grundlage der polnischen Staatsbürgerschaft auf. Fehlende oder schlechte Deutschkenntnisse erschweren die Integration im Arbeits- oder Lebensumfeld, wiederum verringern ausgezeichnete Polnischkenntnisse, Arbeit bei den polnischen Vermittlern und die Aktivität der polnischen Missionen bei den deutschen Pfarrgemeinden, das Gefühl der Entfremdung. Die Landsmannschaften, deren Aktivität von alleine schwächelt, haben bislang keine Möglichkeit gefunden, um an diese Gruppe zu gelangen. Glücklicherweise verbessert sich die Zusammenarbeit zwischen den Landsmannschaften und den deutschen Minderheiten, auch dank des Einsatzes der AGDM mit der Kulturstiftung der BdV. Wohlmöglich werden wir auf dieser Weise gemeinsam eine entsprechende Lösung finden können.


Und wenn die jungen Autochthonen nach europäischen Perspektiven suchen, wäre es dann nicht sinnvoll, sie zu öffnen? Wäre das nicht sowohl für die Vertriebenenverbände, wie auch für die Minderheit eine Chance, gemeinsame Jugendarbeit aufzubauen?


Das läuft schon. Zuerst in Rahmen der AGDM haben wir einen Jugendkoordinator gewählt und die Jugendarbeit initiiert und dann gemeinsam mit der Kulturstiftung des BdV bereits ein paar Treffen mit den Jugendlichen sowohl seitens der Minderheiten als auch der Landsmannschaften, organisiert. So haben wir sogar auch manche Landsmannschaften motiviert, ihre Jugendlichen zu aktivieren. Generell funktioniert die Jugendarbeit bei den Minderheiten besser als bei vielen Landsmannschaften. Ich freue mich sehr, dass ich in der vergangenen Woche bei der Jugendgala in Oppeln einen Jugendvertreter der Landsmannschaft Schlesien treffen konnte. Der Aktivität der AGDM ist es zu verdanken, dass der BJDM die Möglichkeit hatte, diesen Jugendvertreter kennenzulernen.


Kommen wir zurück auf die deutsche Minderheit in Schlesien. Seit der Wende sind 30 Jahre vergangen. Die Sprache ist ein Schlüssel zur Kultur. Trotzdem spricht die erdrückende Mehrheit der Mitglieder der deutschen Minderheit im Alltag Schlesisch. Wie wichtig ist dann diesen Menschen das Deutschtum?


Dies kommt bei deutschen Minderheiten recht häufig vor. So wie in Schlesien spricht zum Beispiel die deutsche Gemeinschaft in Nordschleswig zu Hause kein Deutsch. Sie sprechen einen süddänischen Dialekt. Kinder gehen ohne Deutschkenntnisse in einen deutschen Kindergarten, oder in die erste Klasse der Grundschule. Diese deutschen Bildungseinrichtungen sind ein Ort der Sprachausbildung in Dänemark. Das sind diese Einrichtungen, die uns im Gegensatz zu Dänemark fehlen, was auch vom Europarat im Zusammenhang zur ratifizierten Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen wiederholt kritisiert wird. Somit ist der Ausgangspunkt der gleiche, leider aber werden unsere Kinder durch das polnische Bildungssystem zum Gebrauch eines eingeschränkten Deutschunterrichts gezwungen, der meistens in Form von nur 3 Stunden pro Woche erfolgt. Wiederum in Dänemark erwerben die Kinder innerhalb weniger Jahre fließende Deutschkenntnisse, mit einem Abiturabschluss, der in beiden Ländern gültig ist. Da die Sprache die Grundlage der kulturellen Identität ist, ermöglichen die geringen Deutschkenntnisse leider keine vollständige Beteiligung an der deutschen Kultur. Dieser Nachteil schmerzt unsere Gemeinschaft sehr, da ihr Streben die Integration des Schlesiertums mit dem Deutschtum ist. Bedauerlicherweise sind diese fehlenden Deutschkenntnisse meistens ein Grund dafür, einen dritten Weg anzustreben, um die eigene Identität zu definieren sowie dafür, einen Versuch zu machen, sie ausschließlich auf dem zu Hause verwendeten schlesisch zu stützen. Auf diese Weise schwächt die einst in Oberschlesien häufige Erscheinung der zweistufigen Identität, also ein Schlesier und gleichzeitig ein Deutscher zu sein. Der Weg, dieses Phänomen zu ändern besteht darin, die Kenntnisse und die Verwendung der deutschen Sprache zu popularisieren, was lediglich mithilfe von außerschulischer Tätigkeit der deutschen Minderheit sehr schwer umzusetzen ist. Demzufolge, durch den Druck auf den Europarat, in Form der MSPI Initiative, möchten wir versuchen, einen europäischen Standard für den Unterricht von Minderheitensprachen zu schaffen, der auch seitens des polnischen Staates eingeführt werden müsste. Leider hat sich unser jahrelanger Druck auf die polnische Regierung als zu wenig erfolgreich erwiesen. Die Bedeutung des wirklichen Minderheitenunterrichts wird von der polnischen Regierung gut verstanden; ein Beispiel dafür ist, wie sie die Existenz von Schulen in Litauen mit Polnisch als Unterrichtssprache verteidigt. Schade, dass die polnische Regierung den gleichen Standard nicht im eigenen Land einführt.


Bemerkung: Unter Autochthonen verstehe Autor die bundesdeutschen Staatsangehörige aus Schlesien und die Nachkommen von den Ost-Schlesiern, die das Recht darauf als Folge der Grenzverschiebung 1922 verloren haben.

This is some text inside of a div block.
Natalia Klimaschka