14.11.2025
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Der Garten Eden hat seinen Glanz verloren (IV)

Neue deutsche Identität. Hoffnungen und Perspektiven

Die Zukunft der deutschen Minderheit in Polen hängt vom Mut ab, den Begriff der deutschen Identität neu zu definieren – nicht als abstrakte Idee, sondern als lebendige, in der schlesischen Region verwurzelte Gemeinschaft. Das kulturelle Leben der Minderheit kann wieder zu einer Quelle von Stolz, Zusammenhalt und kreativer Kraft werden.

Die Sehnsucht nach einem neuen Sinn

Das Umfeld der deutschen Minderheit in Polen steht heute an einem Wendepunkt. Die vergangenen drei Jahrzehnte brachten den Aufbau einer stabilen Position, die Festigung von Strukturen und deren Professionalisierung. Zugleich jedoch war es eine Zeit, in der die ideelle Attraktivität verloren ging. Heute lautet die Frage nicht mehr, wie man überlebt, sondern wie man diesem Dasein einen neuen, anziehenden Sinn geben kann. Wie lässt sich eine Gemeinschaft formen, die nicht nur die Erinnerung verteidigt, sondern Zukunft gestaltet?

Die deutsche Identität in Oberschlesien wurde über viele Jahre hinweg als Relikt betrachtet – als Erbe der älteren Generation. Einst war sie Ausdruck der Sehnsucht, ein Abbild der alten Welt wiederherzustellen: jener, die mit den Großeltern, den Eltern und der eigenen Jugend verbunden war. Doch in einer sich dynamisch wandelnden Gegenwart kann deutsche Identität nicht länger nur Erinnerung sein. Sie muss zu einer attraktiven, tragfähigen Zukunftsperspektive werden.

Vom universellen zum regionalen Deutschtum

Die größte Herausforderung der Minderheit besteht heute darin, den Begriff des Deutschtums neu zu fassen. Über viele Jahre dominierte ein universelles Modell, häufig unmittelbar aus der Bundesrepublik übernommen. Doch Deutschtum darf keine abstrakte Idee bleiben, die in einem exterritorialen Raum schwebt. Es sollte vielmehr das Fundament bilden, auf dem neue, regionale Formen von Kultur entstehen können – solche, die für die heutigen Bewohner relevant, nah und lebensweltlich bedeutsam sind.

Gerade junge Menschen brauchen etwas, das aus ihrer eigenen Erfahrung erwächst: aus familiären Erinnerungen, aus Geschichten, die sie am Feiertagstisch von den Großeltern gehört haben. Das spricht sowohl die Emotionen als auch die Vorstellungskraft an.

Deshalb sollte dieses neue Deutschtum organisch mit der oberschlesischen Landschaft, der Sprache und dem Alltag verbunden sein. So verstanden es auch Heinz Piontek, Horst Bienek, August Scholtis oder Joseph von Eichendorff. Selbst Gustav Freytags wichtigster Roman Soll und Haben ist tief in schlesische Realitäten eingebettet. Ihre Werke entstammen einer Kultur, die zugleich deutsch und schlesisch war – in der Region verwurzelt und doch offen nach Westen.

Eine universelle deutsche Identität steht nicht im Widerspruch zum schlesischen Selbstverständnis. Im Gegenteil – das Schlesische kann sein stärkster Verbündeter sein. Es ist lebendig, farbig, im öffentlichen Raum präsent; es erscheint sogar in Werbekampagnen großer Konzerne.

Die Abneigung gegenüber dem schlesischen Selbstverständnis, die in Teilen des Umfelds bis heute spürbar ist, ist ein Echo früherer Politiken kultureller Unterdrückung – sowohl preußischer als auch polnischer. Über Generationen hinweg versuchten zugezogene Eliten, die regionalen Werte dieser Gemeinschaft zu nivellieren und ihr das Recht auf eigene Besonderheit abzusprechen.

Mit diesem Denken muss endgültig gebrochen werden. Zumal auch das schlesische Selbstverständnis ohne ein deutsches Fundament im Wettbewerb der globalen Kulturen kaum bestehen kann. Beide Strömungen – die schlesische und die deutsche – brauchen einander. Nur gemeinsam können sie neue Impulse freisetzen und eine Gemeinschaft der Zukunft formen.

Die Kraft der Gemeinschaft – neue Intelligenz und neue Impulse

Jede Erneuerungsbewegung beginnt mit Menschen, die denken und sich engagieren. Deshalb sollte eine neue Kulturpolitik der Minderheit auf die Gewinnung der autochthonen Intelligenz setzen – Künstler, Ärzte, Unternehmer, Wissenschaftler, Kulturschaffende, die sich mit den deutschen Traditionen Schlesiens identifizieren. Gerade sie könnten Ton und Richtung der Identitätsentwicklung bestimmen.

Es braucht einen Klub der deutschen Intelligenz – nicht als bloßes Symbol, sondern als realen Ort des Denkens und der Diskussion. Er könnte zu einem Raum weltanschaulicher Debatten werden, zu einem Forum, in dem sich das Umfeld der Minderheit fragt, wie es in einigen Jahren aussehen soll. Deutschtum darf kein Relikt der Vergangenheit sein – es sollte eine attraktive Perspektive für morgen darstellen.

Ein solcher Klub könnte die Funktionen eines intellektuellen Salons und eines Kulturzentrums verbinden: Treffen, Vorträge, Konzerte, Ausstellungen, Filmvorführungen – all das, was zum Gespräch anregt und Mitgestaltung ermöglicht. Nur so kann die Minderheit wieder zu einer wichtigen, inspirierenden kreativen Kraft der Region werden – offen, vielfältig und anziehend für neue schöpferische Persönlichkeiten.

Weltanschaulicher Pluralismus ist keine Bedrohung – er ist die Voraussetzung für das Fortbestehen der Gemeinschaft.

Die Jugend – zwischen Europa und Heimat

Für die junge Generation ist nationale Zugehörigkeit längst keine Kategorie erster Ordnung mehr. Sie verspürt keinen Bedarf, um die „Deutschtümlichkeit“ zu kämpfen; vielmehr sucht sie Gemeinschaft, Sinn und eigene Handlungsspielräume. Sie sucht nach Vorbildern und Orientierung.

Die Aktivierung der kreativen und intellektuellen Milieus scheint dabei entscheidend. Ihre Präsenz in den Reihen der Minderheit sollte zu einer Inspiration werden, sich in den Organisationsstrukturen zu engagieren. In dem Moment, in dem junge Menschen in ihrem Freundeskreis mit Stolz von ihrer Zugehörigkeit zur Minderheitenorganisation sprechen können, wird sich auch ihr Interesse an einem aktiven Engagement grundlegend verändern.

Um sie zu gewinnen, muss die Minderheit aufhören, eine sentimental geprägte Organisation zu sein, und zu einem Umfeld moderner Kultur werden – nah, lokal, und zugleich europäisch. Zugleich muss sie ein Milieu intellektueller und künstlerischer Autoritäten darstellen.

Ein guter Anfang könnten neue Institutionen sein: ein Jugendkulturhaus, eine Künstleragentur, die lokale Musikgruppen unterstützt, oder ein starkes Medienportal, das kulturelle Inhalte mit gesellschaftlicher Debatte verbindet. Das sind keine Zusatzangebote – das sind Werkzeuge zur Schaffung von Gemeinschaft.

Das Engagement der jungen Generation entsteht nicht aus Fördermitteln, sondern aus Leidenschaft. Man muss ihr nur die entsprechenden Voraussetzungen schaffen.

Neue Kulturpolitik – Institutionen und Erinnerungsorte

Die neue Kulturpolitik der deutschen Minderheit sollte den Aufbau eigener Kultureinrichtungen vorsehen, die die künstlerische Landschaft der Region auf professionelle Weise mitgestalten. Sie sollten zu Produzenten von Veranstaltungen und Projekten von überregionaler Bedeutung werden – nicht zu Nischenangeboten, sondern zu Initiativen, die mit den wichtigsten polnischen Kulturvorhaben konkurrieren können.

Das ist keine Utopie. Man muss sich nur an die Inszenierung von Aus dem Leben eines Taugenichts von Joseph von Eichendorff erinnern, die 1992 auf der Bühne des Kochanowski-Theaters in Oppeln entstanden ist. Die Aufführung mit internationaler Besetzung, unter der künstlerischen Aufsicht von Maciej Prus – damals Intendant des „Teatr Dramatyczny“ in Warschau – war eine gemeinsame Initiative des Oppelner TSKN und einer der bedeutendsten Bühnen des Landes.

Auch das Schlesien Journal erhielt vor zwanzig Jahren internationale Auszeichnungen, und die einstündigen Radiosendungen von Pro Futura wurden live (!) vom größten Regionalsender Europas ausgestrahlt – dem Westdeutschen Rundfunk in Köln. Das Dokumentations- und Ausstellungszentrum der Deutschen in Polen ist ein weiterer großer Erfolg. All dies zeigt, dass deutsche Kulturinitiativen aus Oberschlesien ein europäisches Niveau erreichen können.

Die Aufgabe der Minderheitenorganisationen besteht nicht nur in der Pflege von Traditionen, sondern in der Schaffung von Werten, die auch die Mehrheit inspirieren. Deutschtum verfügte stets über eine kulturell schöpferische Kraft – in der Vergangenheit vermochte es andere Kulturen zu durchdringen und ihnen Sprache und Ordnung zu geben.

Die neue Kulturpolitik sollte sich aber auch nach innen wenden, an die eigene Gemeinschaft. Es gilt, auf die gemeinsame Geschichte und Leidensgeschichte zu verweisen, um eine Erinnerungsgemeinschaft wieder aufzubauen. Vor diesem Hintergrund gewinnen die symbolischen Orte der deutschen Kultur Schlesiens eine besondere Bedeutung:

– Oberglogau und Lubowitz, die an die Verbindung dieser Region mit der europäischen Hochkultur erinnern – mit Beethoven und Eichendorff, dessen romantische Imagination aus dieser Landschaft erwuchs.
– Zyrowa, verbunden mit dem Geschlecht der von Gaschin, den Erbauern des Komplexes auf dem St.-Annaberg und späteren Trägern der Tradition des deutschen Widerstands.
– Der Montalembert-Turm in Cosel, ein Symbol der Verteidigung schlesischer Eigenständigkeit und des Geistes des Widerstands gegen fremde Einflüsse.

Diese Orte können zu Brennpunkten eines neuen kulturellen Lebens werden – nicht zu musealen Denkmälern, sondern zu lebendigen Räumen für Begegnungen, Konzerte, Festivals und Debatten. Hier könnte die Vergangenheit der Gegenwart begegnen – in einem kreativen Dialog der Generationen und Traditionen.

Die Rückkehr zu diesen Symbolorten bedeutet die Rückkehr zu den Quellen der Identität, in denen die Vergangenheit zur Inspiration für die Zukunft wird. Auf solchen Fundamenten lässt sich – im wörtlichen wie im übertragenen Sinn – eine neue deutsche kulturelle Präsenz in Schlesien aufbauen.

Deutsch und Schlesisch als Sprachen der Minderheit

Zweisprachigkeit ist ein unverzichtbarer Bestandteil der Identität Oberschlesiens. Neunhundert Jahre lang koexistierten hier Deutsch und Schlesisch ohne Konflikt – die eine Sprache war die der Kultur und Verwaltung, die andere die Sprache des Hauses, der Gefühle und des Alltags.

Diese Koexistenz zweier Sprachen ist Teil der deutschen Geschichte und Tradition Oberschlesiens – und zu dieser Tradition lohnt es sich heute zurückzukehren. Nicht nur als Erinnerung, sondern als reale kulturelle Praxis.

Es wäre ein Fehler, das Schlesische als „minderwertig“ zu betrachten. Die schlesische Sprache ist Teil einer Kultur, die nicht polnisch sein will; sie ist eine Manifestation kultureller Eigenständigkeit. Eine Öffnung gegenüber dem Schlesiertum kann neue Menschen für die Organisation gewinnen – insbesondere jene der Generation der 50- bis 70-Jährigen, denen die polnische Assimilationspolitik einst die deutsche Sprache nahm. Es sind erfahrene Menschen, verwurzelt in den deutschen Traditionen, bereit, einen neuen Raum der Identität mitzugestalten.

Das Schlesische ist keine Konkurrenz zur deutschen Sprache, sondern ihr natürlicher Verbündeter und ihre Ergänzung. Beide Sprachen können in ihrer Komplementarität einen Raum kultureller Erneuerung schaffen.

Die heute künstlich geschaffene literarische Form des schriftlichen Schlesisch wird die Prüfung der Zeit vermutlich nicht bestehen – sie wird durch Polnisch, Deutsch oder Englisch ersetzt werden. Daher sollte die Organisation darauf hinarbeiten, dass gerade das Deutsche zu ihrem natürlichen Fortsetzer wird. Voraussetzung ist jedoch die vollständige Akzeptanz des Schlesischen – ohne sie wird Integration nicht möglich sein.

Auf dem Weg zu einer Gemeinschaft der Zukunft

Das Ziel der deutschen Minderheit in Polen sollte darin bestehen, einen neuen Sinn von Gemeinschaft zu finden – eine Gemeinschaft, die den Menschen Halt, Stolz und das Gefühl gibt, in ihrer eigenen Heimat zu sein. Nicht im Namen einer Ideologie, sondern im Namen der Menschen selbst – ihrer Erfahrungen, Bedürfnisse und Sehnsüchte.

In einer Welt, die zunehmend unpersönlich und homogen erscheint, gewinnt die Zugehörigkeit zu einer in Ort und Erinnerung verwurzelten Gemeinschaft an besonderem Wert. Überdauern werden nur jene Gemeinschaften, die ihren Mitgliedern ein Gefühl von Sicherheit und Sinn vermitteln können – das Bewusstsein, Teil eines größeren Ganzen zu sein, das die politische, kulturelle und gesellschaftliche Zukunft der Region mitgestaltet.

Teil eines solchen Milieus zu sein, ist keine Frage von Erklärungen, sondern eine Frage innerer Überzeugung: der Überzeugung, dass es sich lohnt, zusammenzuhalten – dass gemeinsame Ziele und Erfahrungen dem Alltag Bedeutung verleihen.

Die neue Kulturpolitik der Minderheit sollte eine solche Gemeinschaft auf dem Fundament schlesischer Traditionen aufbauen – in der Region verwurzelt, aber offen und modern. Gerade in der Verbindung von Schlesiertum und Deutschtum liegt die Quelle ihrer Erneuerung. Das Schlesische gibt Verwurzelung, das Deutsche – die universelle Sprache der Kultur.

Denn Deutschtum und Schlesiertum – wie zwei Strömungen desselben Flusses – können gemeinsam einen neuen Kulturraum schaffen, in dem Verwurzelung zur Stärke wird und Erinnerung zum Wegweiser nach Westeuropa.

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Isabelle Bednorz