30.11.2021
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Die deutsche Minderheit war erfolgreich

Interview mit dem Minister und Ersten Stellvertretenden Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Warschau, Knut Abraham

Knut Abraham begleitet die autochthone Gemeinschaft in Schlesien seit vielen Jahren. Im Interview spricht er über seine ersten Kontakte mit dieser Gemeinschaft, über die Notwendigkeit der Unterstützung nationaler Minderheiten in Europa, über die Rezeption der deutschen Widerstandsbewegung und über die Aussichten, in Oppeln ein Denkmal für den unbekannten Wehrmachtsdeserteur zu errichten.

Knut Abraham

Herr Gesandter, Sie sind hier in Warschau ein später Nachfolger von Rudolf von Scheliha. Keiner der deutschen Widerstandskämpfer hat so enge Kontakte mit dem polnischen Untergrund unterhalten wie er. Keiner setzte sich so stark und effizient für die Belange der polnischen Freunde ein wie er. Trotzdem bleibt Scheliha dem breiten Publikum in Polen unbekannt. Wie ist das möglich?

Dies ist nicht nur in Polen der Fall. Auch in Deutschland ist seine Persönlichkeit wenig bekannt. Am häufigsten hört man von Stauffenberg oder Moltke. Andere Kämpfer des deutschen Widerstands oder ihre Ziele bleiben allzu oft unbekannt. In den letzten Jahren habe ich mich intensiver mit diesem Thema beschäftigt, aber selbst ich weiß zu wenig darüber. In Polen ist es besonders schwierig, über den Widerstand zu sprechen. Seine Geschichte wird oft als Versuch gesehen, die deutschen Verbrechen zu relativieren. Das ist jedoch den Widerstandskämpfern gegenüber ungerecht, denn diese Menschen setzten wirklich ihr Leben aufs Spiel – viele von ihnen wurden ermordet. Rudolf von Scheliha ist hierfür ein gutes Beispiel. Er wurde von der Gestapo der Widerstandsgruppe „Rote Kapelle“ zugeschrieben, der er wahrscheinlich nie angehörte. Nach 1945 galt die „Rote Kapelle“ als sowjetischer Agentenring. Scheliha aber war ein Held, der vielen Polen tatkräftig geholfen hat. Spontan kommt mir der Gedanke, dass man eine Ausstellung über ihn organisieren und ihn so einem breiteren Publikum in Polen vorstellen könnte. Sein Porträt hängt übrigens hier in der Botschaft, in der Nähe meines Büros und des Büros des Botschafters.

Rudolf von Scheliha stammte aus Zessel bei Oppeln. In den 1920er Jahren war er deutscher Vizekonsul in Kattowitz. Heute gehört Schlesien zwar zu Polen, doch viele historische und kulturelle Spuren sind geblieben. Seit der Wende erhebt die deutsche Minderheit den Anspruch, eine Art Brückenfunktion zwischen beiden Staaten zu erfüllen. Ist das eine leere Formel, oder kann die deutsche Minderheit tatsächlich diese Rolle ausfüllen? Wie kann eine solche Brückenfunktion überhaupt funktionieren?

Ich bin fest davon überzeugt, dass die deutsche Minderheit in der Vergangenheit eine sehr wichtige Rolle gespielt hat und auch weiterhin spielt – und ich hoffe, dass das so bleibt. Es liegt an der Einzigartigkeit Schlesiens mit seinen deutsch-polnischen Eigenheiten. Die Oberschlesier bilden eine lebendige Gemeinschaft. Dank ihnen ist das deutsche kulturelle Erbe in Oberschlesien nicht zu einem Museumsstück erstarrt, sondern eine lebendige Realität geblieben.

Die Organisation der Minderheit spielt für die Menschen eine wichtige kulturelle und emotionale Rolle. Während der Wende waren Sie als Mitarbeiter des Bundestages bereits in Polen aktiv. Wie hat die Bundesregierung damals auf die Entstehung der deutschen Minderheit reagiert? Sah man darin eher eine Chance oder eine Bedrohung für die deutsch-polnischen Beziehungen?

Man war überrascht, wie viele Menschen sich in einer freien Gesellschaft plötzlich zum Deutschtum bekannten. Für uns war es etwas völlig Neues, dass zur Messe in Kreisau plötzlich so viele Menschen kamen. Erst dann haben wir verstanden, wie dringend neue politische und rechtliche Rahmenbedingungen notwendig waren – und dann kam der Nachbarschaftsvertrag. Nein, Angst hatte man nicht. Die ganze Bewegung verlief außerordentlich friedlich. Es war auch ein großer persönlicher Verdienst von Erzbischof Alfons Nossol, der in der Lage war, diese Menschen positiv zu beeinflussen. Eine Bedrohung war die deutsche Minderheit nie.

Sie waren auch einer der ersten hohen deutschen Repräsentanten, die Schlesien in diesen bewegten Monaten besuchten. Wie haben Sie persönlich die deutsche Minderheit damals erlebt?

Die Glücksgefühle der Oberschlesier im Jahr 1989 sind auf mich übergesprungen. Die Menschen waren damals voller Hoffnung und fühlten sich frei – sie mussten ihre Identität nicht mehr verstecken oder sich dafür schämen. Diese Entwicklung weckte Hoffnungen auf einen europäischen Weg Polens, der damals noch keineswegs selbstverständlich war. Ich erinnere mich gut an die Tränen und die Freude. Ich denke oft an die Lieder, die damals gesungen wurden – das war für mich sehr rührend und erfüllend. Als Außenstehender konnte ich das gut nachempfinden. Die neue Situation hat vor allem meine Neugier auf die schlesische Kultur und Geschichte geweckt. Früher hat man sich dafür kaum interessiert, und als der Schleier des Kommunismus plötzlich fiel, kam eine bunte, sehr interessante Vielfalt von Kulturen zum Vorschein. Auf einmal war die Geschichte Mittel- und Osteuropas ein großes Thema.

Und wie sieht das aus Ihrer Sicht heute aus? Schließlich hat die Bundesregierung die Organisationen der deutschen Minderheit über Jahrzehnte hinweg mit vielen Millionen Euro unterstützt. Wurden diese Mittel effizient eingesetzt?

Zunächst kann ich bestätigen: Ja, die Bundesregierung hat die Minderheit sehr entschlossen unterstützt. Es war richtig, und diese Hilfe hatte eine herausragende Bedeutung. Dank dieser Unterstützung ist eine lebendige Gemeinschaft entstanden, die sich kulturell entfaltet und die Menschen emotional bindet. Man wollte, dass die Menschen in Schlesien bleiben und nicht auswandern. Das ist gelungen. Die Situation der Minderheit hat sich stabilisiert. Die Deutschen in Oberschlesien fühlen sich hier sicher, heimisch und wohl. Sie betrachten ihre Situation mit Gelassenheit und sehen hier ihre Zukunft. Deshalb wandern sie nicht aus – manche kehren sogar zurück. Ich höre immer wieder Geschichten von Kindern, die in Deutschland geboren wurden und nun hier zur Schule gehen. Nach der Wende sind beispielsweise viele Handwerker aus Oberschlesien ausgewandert. Sie konnten sich in der Bundesrepublik gut behaupten, da sie die deutsche Sprache beherrschten und die Arbeitskultur kannten. Manche von ihnen gründeten eigene Betriebe und wurden später in Oberschlesien wieder aktiv. Es sind nicht viele, aber doch einige. Ich würde mich über eine Diskussion zu neuen Projekten der Minderheit in den Bereichen Jugend, Sprache und Kultur freuen. Hier sind wir sehr offen. Das ändert jedoch nichts an meiner Überzeugung, dass die deutsche Minderheit insgesamt eine Erfolgsgeschichte ist.

Wir leben in einem gemeinsamen Europa. Es wächst ein Gebilde heran, in dem künftig alle Völker zu Minderheiten gehören. Nationale Bindungen verlieren zunehmend an Bedeutung. Hat es in dieser neuen Situation überhaupt noch Sinn, von Minderheiten zu sprechen? Oder anders gefragt: Muss man nationale Minderheiten weiterhin auf besondere Weise unterstützen?

Deshalb spreche ich lieber von Volksgruppen und nicht von Minderheiten. Natürlich muss man sie unterstützen – und zwar aus vielen Gründen. Die kulturelle Vielfalt ist in Europa ein großer Reichtum. In jeder Region bildet diese Vielfalt eine Besonderheit und Qualität in sich. Wie schrecklich wäre es, wenn es nur eine Sorte Blumen gäbe – mit den Kulturen ist es genauso. Aber die Lage der Minderheiten ist nicht immer einfach, und meist haben sie einen schweren Stand. Die Mehrheitsbevölkerung dominiert in der Regel das kulturelle Leben. Die Schwächeren können sich daher nicht so leicht entfalten. Das ist überall so. Die Sorben bei uns befinden sich in einer ähnlichen Situation. Da muss man nachhelfen, um die Chancen auszugleichen.

Doch es hat auch eine tiefere Dimension. In einer sich rasch verändernden Welt brauchen die Menschen mehr denn je ideelle Unterstützung. Starke Wurzeln sind wichtig für innere Sicherheit und Orientierung. Natürlich ändern sich Identitäten im Laufe der Zeit, aber traditionelle Werte bilden eine Grundlage für die weitere Entwicklung. Nur auf einem soliden Fundament können neue, stabile Bezugspunkte entstehen. Daher ist es so wichtig, das Bestehen der Kulturen zu bewahren und ihre eigenständige Entwicklung abzusichern. Dafür braucht man Garantien sprachlicher, kultureller und politischer Rechte. Gegenüber der deutschen Minderheit in Schlesien haben wir eine besondere Verpflichtung. Sie ist zu einer Minderheit geworden durch eine politische Entwicklung, die sie selbst nicht verschuldet hat. Daher helfen wir – und wir wollen auch weiterhin helfen.

Vor wenigen Monaten ist der ehemalige Sejm-Abgeordnete und führende Vertreter der deutschen Minderheit, Bruno Kosak, gestorben. Über viele Jahre setzte er sich dafür ein, ein Denkmal für unbekannte Deserteure der Wehrmacht zu errichten. Er schätzte jene deutschen Soldaten, die den Mut hatten, dem Hitler-Regime den Rücken zu kehren – genauso wie Rudolf von Scheliha. Hat es Sinn, dieses Projekt weiterzuverfolgen und ein solches Denkmal in Oppeln zu initiieren?

Das muss die Bevölkerung in Oppeln entscheiden. Desertion ist ein sehr schwieriges Thema. Von einigen wird sie als „Widerstand des kleinen Mannes“ gesehen, denn einfache Soldaten, die mit dem NS-Regime nicht einverstanden waren, hatten keine Instrumente, sich dem Dritten Reich zu widersetzen. Einige wählten daher den Weg der Flucht aus der Wehrmacht. Es ist aber eine sehr komplexe und sensible Frage.

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